Warum haben Medikamente Nebenwirkungen?

Wir werden alle gelegentlich einmal krank, und wir brauchen dann manchmal Medikamente. Im besten Fall solche, die wirken. Doch viele Menschen beurteilen Medikamente nicht nach ihrer Wirksamkeit, sondern fürchten sich vor ihren möglichen Nebenwirkungen. Manche gehen mittlerweile sogar so weit, dass sie alle Medikamente als „pure Chemie“ verdammen, die nur dazu da ist, uns noch kränker zu machen. Was ist an diesen Befürchtungen dran?

Nebenwirkungen sind leider nicht zu vermeiden. Im Gegenteil – ein Medikament, das keine Nebenwirkungen hat, steht in dem schweren Verdacht, auch keine Hauptwirkung zu haben.

Einen Stoff zu finden, der bei allen Menschen genau und nur dazu führt, dass ein ganz bestimmtes Krankheitssymptom bekämpft wird, ohne dass dadurch im Körper auch andere Funktionen und Prozesse beeinträchtigt werden, ist unmöglich (Drugwatch 2017).

Ein medizinischer Wirkstoff „weiß“ nicht, dass wir ihn zu einem bestimmten Zweck einsetzen. Auf chemische oder physikalische Weise hat er die Fähigkeit, das Potenzial, eine Wirkung auf unseren Körper oder direkt auf Krankheitserreger zu entfalten, die in unseren Körper eingedrungen sind. Und diese Effekte halten sich leider nicht an unsere menschlichen Kategorien wie „gut“ und „schlecht“ oder „erwünscht“ und „unerwünscht“. Natürlich versucht man Stoffe als Medikamente zu wählen und zu erforschen, die möglichst genau in die Prozesse eingreifen, die für die jeweilige Krankheit oder deren Symptome verantwortlich sind. Das ist ein großer Forschungsbereich der Pharmazeutik. Doch selten gelingt dies vollständig (im Grunde nur bei Mitteln, die dem Körper Substanzen zuführen, die er normalerweise selbst herstellt, wenn genau diese Funktion gestört ist). Selbst dann können dosisabhängig Nebenwirkungen auftreten. Es gibt kein Mittel „gegen Kopfschmerzen“. Es gibt nur Substanzen, die hauptsächlich oder teilweise bewirken können, dass Kopfschmerzen gelindert werden. Einige blockieren dafür Rezeptoren, andere sorgen für die Produktion oder Hemmung von Botenstoffen. Es gibt aber kein „Kopfweh-Teilchen“, das gezielt beeinflusst werden könnte. Wirkungs- und damit Heilungsprozesse, die funktionieren, müssen in irgendeiner Form auch andere Auswirkungen haben; wir sprechen von Nebenwirkungen. Niemand baut absichtlich solche Nebenwirkungen in Medikamente ein!

Aspirin – Fluch und Segen

Die Forschungen über Nebenwirkungen der Acetylsalicylsäure (Aspirin, ASS) beispielsweise füllen inzwischen reihenweise Bücher – obwohl es zweifelsfrei eines der zuverlässigsten und meistgenutzten Medikamente weltweit ist und im Alltag für seine eher unproblematische Handhabung gelobt wird. ASS ist ein Wirkstoff mit schmerzlindernden, fiebersenkenden und entzündungshemmenden Eigenschaften. Außerdem hat ASS einen gerinnungshemmenden Effekt und kann deshalb zur prophylaktischen Behandlung von erneuten Herzinfarkten und Schlaganfällen eingesetzt werden. Doch genau diese Hauptwirkung führt dazu, dass sie das Blutungsrisiko insgesamt erhöht, was wiederum dazu führen kann, dass außergewöhnliche Blutungen auftreten, zum Beispiel eine schlimme und absolut unerwünschte Magenblutung.

Die Geschichte dieses bekannten Präparates zeigt gut auf, wie ein Medikament überhaupt entsteht: Schon die alten Kelten kochten Weidenrinde aus, denn sie hatten die schmerzstillende Wirkung des Suds erkannt. Doch erst um 1850 gelang die Isolierung der dafür verantwortlichen Salicylsäure. Deren Säurewirkung war jedoch hoch: Sie verätzte bei der Einnahme die Mundschleimhaut. Erst die Weiterentwicklung zu Aspirin im Jahr 1897 brachte den Durchbruch – für Bayer finanziell und für Patienten therapeutisch. ASS ist heute eines der am häufigsten eingesetzten Schmerzmedikamente. In der richtigen Dosierung treten Nebenwirkungen selten auf. Doch nebenwirkungsfrei ist ASS nicht und kann es aufgrund der beschriebenen Zusammenhänge auch nicht sein.

Wie ASS werden viele Medikamente durch Zufall entdeckt (was brachte einen Kelten dazu, Rinde zu kochen? Wie wurde die Wirkung überliefert?), dann nach dem „Trial-and-Error-Prinzip“ weiterentwickelt und immer weiter verbessert, sodass die Wirkung gezielter wird und die Nebenwirkungen abnehmen. In klinischen Studien werden Medikamente auf ihre tatsächliche Wirkung und Verträglichkeit hin untersucht. Bei der synthetischen Herstellung prüft man dann auch, ob es möglich ist, durch chemische Modifikationen die Nebenwirkungen herunterzuschrauben, ohne die Hauptwirkungen zu beeinträchtigen.

Nebenwirkungsfreie Chemo?

Nehmen wir als nächstes Beispiel Chemotherapie gegen Krebs, die für ihre aggressiven Nebenwirkungen bekannt ist. Immer wieder habe ich Beiträge von Patienten gelesen, die das kritisieren. „Warum tut man Menschen so etwas an?“, fragen sie. Oder sie sagen: „Chemotherapie hat mehr Menschen auf dem Gewissen, als sie gesund gemacht hat!“

Man gibt Chemotherapeutika („Zytostatika“), um schnellwachsende Krebszellen aufzuhalten. In der Tat, Zytostatika sind Zellgifte, die ihre Giftigkeit gegen den Tumor richten sollen. Wenn man die Tumorzellen am Wachstum hindert, kann das Krebsgeschwür nicht weiterwachsen oder wird sogar zerstört – das leuchtet ein. Doch leider ist es bislang nur in Ansätzen gelungen, die zellzerstörende Wirkung auf die Krebszellen zu beschränken: Sie trifft grundsätzlich alle sich schnell teilenden und wachsenden Körpergewebe. Diese finden sich zum Beispiel auch in den Schleimhäuten des Mundes und des Verdauungstraktes, in Haaren, Nägeln und in Wundregenerationsbereichen. So besiegt man durch die Chemotherapie also auf der einen Seite im besten Fall den Krebs, auf der anderen Seite aber bezahlt man diese Wirkung mit den Nebenwirkungen: Haarausfall, Wundheilungsstörungen, Magen-Darm-Beschwerden oder Übelkeit. Das eine ist nicht ohne das andere zu bekommen, obgleich man unablässig daran forscht, die Wirkung zu maximieren und die unerwünschten Begleiterscheinungen zu minimieren. Unleugbar hat man in den letzten 20 Jahren auf diesem Gebiet schon erhebliche Fortschritte erzielt. Gerade bei Krebs, der ja oft einer lebensbedrohlichen Diagnose gleichkommt, nimmt man also quasi in Kauf, dass es den Patienten vorübergehend schlecht geht, um auf lange Sicht das Leben zu erhalten.

Es gibt inzwischen neue „Targeted“-Chemotherapeutika, die gezielt nur Krebszellenstrukturen angreifen. Sie wirken gegen Merkmale, die es so nur in Tumorzellen gibt oder die beim Wachstum von Krebsgewebe zumindest eine wichtigere Rolle spielen als in gesundem Gewebe. Sie werden derzeit intensiv beforscht. So etwas ist einzig und allein der wissenschaftlichen Methode zu verdanken, die durch laufende Verbesserungen im Detail, im Erkennen bislang unbekannter physiologischer und biomechanischer Zusammenhänge und durch das Offenlegen immer feinerer Strukturen des Organismus Fortschritt erzeugt. Wie sollten dagegen Spekulationen, magisches Denken und der Glaube an schlichte Behauptungen derartiges hervorbringen können? Natürlich sind solche Krebstherapien kein kritikfreier Raum; gerade in Bezug auf Nichtunterlegenheitsstudien wird hier viel Wirtschaft und nicht etwa Wissenschaft betrieben (siehe auch Goldacre 2013).

Keine Wirkung ohne Nebenwirkung 

Doch zurück zu unserem Thema: Bei Antibiotika nimmt man in Kauf, dass sie nicht nur die Bakterien abtöten, die uns krank machen, sondern mit ihnen oft auch die Bakterien, die unseren Darm „im Guten“ besiedeln und bei der Verdauung mithelfen. Nebenwirkungen sind deshalb häufig Durchfälle oder andere Magen-Darm-Beschwerden. Auch ein Pilzbefall des Darms ist möglich, weil die natürliche Darmflora vorübergehend angegriffen ist. Auch hier versucht man, die gute Wirkung des Antibiotikums gegen die negativen Nebenwirkungen abzuwägen. Der Darm erholt sich meist schnell wieder – eine bakterielle Lungenentzündung dagegen kann lebensbedrohlich sein. Die Gefährlichkeit von Infektionen durch Bakterien wird heute dank Antibiotika recht gering geschätzt; früher führten diese Infektionen sehr häufig zum Tode. Neben den Impfungen dürften Antibiotika diejenige Errungenschaft der wissenschaftlichen Medizin sein, die die meisten Leben gerettet hat – trotz Nebenwirkungen.

Wenn also Therapien damit werben, dass sie nebenwirkungsfrei sind, sollte Sie das mehr als stutzig machen. Denn etwas, das wirkungsvoll in unseren Körper eingreift, tut das nie so spezifisch, dass nicht auch Nebenwirkungen damit verbunden sein können. Was Haupt- und was Nebenwirkung sein soll, ist eine Definition von uns Menschen, für die sich das Therapeutikum nicht im Mindesten interessiert. Etwas anderes ist kaum zu erwarten; der Glauben an die auf den Menschen hin ziel- und zweckgerichtete Natur wird einmal mehr als „naturalistischen Fehlschluss“ entlarvt. Zwar treten Nebenwirkungen nicht bei jedem und überall gleich heftig oder häufig auf, aber sie gehören zu einer wirkungsvollen Therapie nun einmal dazu.

 

Dies ist ein verkürzter und leicht adaptierter Auszug aus einem Kapitel meines neuen Buchs Gesundheit! Ein Buch nicht ohne Nebenwirkungen, das nun in jedem Buchhandel erhältlich ist. Der Text unterliegt dem © Copyright Springer Verlag Heidelberg 2017.

 

Bild: Fotolia_179611880_XS.jpg

 

 

7 Responses
  1. osterhasebiene langnase Antworten

    „Gesundheit“ – wieder ein erhellendes Buch von Natalie Grams (hab es gerade ausgelesen), ist auch sehr gut lesbar und persönlich geschrieben.
    Ein wenig „blutet“ einem da schon das Herz, wenn man bedenkt, wie viel Zeit und Geld man in den ganzen, im Endeffekt nutzlosen Esoterik-„Kram“ investiert hat. Aber Wahrheit bleibt Wahrheit. Habe mir jetzt auch das Werk „Praxis Naturheilverfahren“ von E. Ernst geholt (noch eins gebraucht ergattert).
    LG

  2. Grade Aspirin ist doch ein super Beispiel dafür, wie aus einer Nebenwirkung (unerwünscht) eine Hauptwirkung werden kann. Auch Sildenafil ist so ein Beispiel.

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