
Understanding Science. 2018. University of California
Wieso Problem? Nun, ausgewogene Berichterstattung ist sicher zunächst einmal eine journalistische Tugend, die auch in den journalistischen Studiengängen vermittelt wird. Offenbar nicht vermittelt wird dort, dass diese Tugend nicht immer und überall Sinn macht und gelten kann.
Das große Feld, in dem diese Tugend zur Untugend wird, ist die Pseudomedizin, ganz besonders beliebt ist dabei einmal mehr das Thema Homöopathie. Kommt es zu Berichterstattungen -vom TV-Feature über größere Artikel der überörtlichen Presse bis hin zum Lokalblatt- sieht man in den allermeisten Fällen auf den ersten Blick die „ausgewogene Berichterstattung“ am Werk, das peinliche Bemühen, nur ja keine Position zu beziehen. Es wird so getan, als gelte es hier zwei gleichberechtigte Positionen darzustellen. Das äußert sich in Formulierungen wie „nach wie vor umstritten“, „wissenschaftlich noch nicht anerkannt“, aber auch in Sätzen wie „Wer heilt hat Recht“. Liest man dann die betreffenden Artikel, erfährt man oft in aller Ausführlichkeit von einem Heilpraktiker, Apotheker oder auch Arzt – wahlweise auch gern von treuherzig dreinblickenden Anwendern – dass Nux vomica bei diesen und Belladonna bei jenen Beschwerden zu empfehlen sei, es habe schon immer geholfen… Kommt es zu einer Darstellung skeptischer Positionen, muss man sich über eine „Ausgewogenheit“ schon freuen. Die eingangs genannten relativerenden Formulierungen erwecken oft eher den Eindruck, es gebe da irgendwelche Leute, die an allem etwas auszusetzen hätten… Und die Wissenschaft und so. Ja. Wir erleben es beinahe täglich.
Und außerdem hat ja Hans-Joachim Friedrichs gesagt, ein guter Journalist dürfe sich nicht mit einer Sache gemein machen, auch keiner „guten“! Hört man in jeder Journalistenschule! Wobei man aber ruhig davon ausgehen darf, dass er damit nicht „falsch“ oder „richtig“ gemeint hat – ganz sicher nicht, sondern etwas ganz anderes. Wie so vieles, wird auch dieses Zitat, das sogenannte „Objektivitäts-Dogma“, zum Problem, wenn man es aus dem Zusammenhang reißt – siehe hier (Link).
Wenn man einmal für eine solche Veröffentlichung zu einer kritischen Sicht befragt wird, wundert man sich in der Regel ziemlich darüber, was dann hinterher wirklich dabei herauskommt. Von den Beiträgen, die gleich völlig unkritisch daherkommen, ganz zu schweigen. Wobei Ausnahmen, wie z.B. das neue Portal MedWatch, [1] die Regel bestätigen – und vielleicht (hoffentlich) eine Vorreiterrolle einnehmen. Gleiches gilt für so manche kritische einzelne Journalisten, erfreulicherweise mit zunehmender Tendenz, dies sei ausdrücklich hervorgehoben. Aber – dies ist in der Summe nach wie vor die Ausnahme.
Schlimm wird es – und auch das gibt es – wenn beispielsweise Positionen der Impfgegnerszene wie seriös diskutierbare Positionen den offiziellen Impfempfehlungen gegenübergestellt werden. Es ist noch nicht lange her (und auch nicht das erste Mal), dass dies bei einem durchaus renommierten Spartenkanal des öffentlich-rechtlichen Fernsehens geschehen ist (Link).
Einer meiner größten Wünsche als Kritiker von Pseudomedizin ist deshalb, dass die journalistische Szene endlich einmal in Gänze realisiert, dass es niemals um „Ausgewogenheit um jeden Preis“ gehen kann, wenn die Positionen, die es darzustellen gilt, im Sinne eines Wahrheitsgehaltes nicht gleichgewichtig sind. Es ist genau die Aufgabe des Journalismus, die Kriterien, die in solchen Fällen anzuwenden sind, zu recherchieren. Fakten und Fantasterein ausgewogen gegenüberzustellen, ist keine Tugend. Parität und Pluralität kann es sinnvollerweise nur zwischen faktenbasierten Standpunkten geben, ansonsten wären beide schlicht Einfallstore für Unsinn. Dies sollte unstreitig sein. Nur so funktioniert auch eine sinnvolle Information der Medienkonsumenten.
Diese Dinge sind bislang in Deutschland erstaunlich wenig thematisiert worden. Ganz anders im englischsprachigen Raum.
Dort schreibt z.B. das Portal „Understanding Science – How Science really works“, betrieben von der Berkeley University, auf einer Informationsseite zu diesem Thema: [2]
Ausgewogene Berichterstattung gilt allgemein als guter Journalismus, und Ausgewogenheit hat ihre Meriten. Die Öffentlichkeit sollte Informationen über alle Seiten eines Themas erhalten – aber das bedeutet nicht, dass alle Seiten des Themas gleiches Gewicht verdienen. Die Wissenschaft arbeitet, indem sie die Beweise, die für die verschiedenen Hypothesen angeboten werden, sorgfältig prüft und auf denjenigen aufbaut, die sich als die besten und belastbarsten erwiesen haben. Ein Journalismus und eine Politik, die fälschlicherweise allen Standpunkten die gleiche wissenschaftliche Legitimität zuerkennen, machen eines der Hauptziele der Wissenschaft zunichte: Die strenge Beweisführung.
Womit wir -zu Recht- die Politik gleich mit im Boot haben. Denn auch diese lässt sich -höchst fatal bei wissenschaftlich begründbaren Entscheidungen – sehr gern von „Ausgewogenheit“ leiten.
Der britische „Guardian“, ohnehin so etwas wie ein Leuchtturm, was Berichterstattung zu wissenschaftlichen Themen angeht, schreibt dazu in einem Artikel mit dem Titel „Impartial journalism is laudable. But false balance is dangerous“ [3] Folgendes:
Wenn die Belege (für eine Seite) eindeutig sind, ist die Annahme, dass ein guter Journalismus die gegensätzlichen Ansichten als gleichwertig behandeln sollte, einfach nicht stichhaltig. Falsches Gleichgewicht entsteht, wenn Journalisten gegensätzliche Standpunkte als gleichberechtigter darstellen, als es die Belege zulassen.
Und auch die New York Times ist sich des Problems bewusst und schreibt dazu unter dem Artikeltitel „The Truth About False Balance“ [4]:
Falsche Ausgewogenheit, manchmal auch „falsche Äquivalenz“ genannt, ist ein durchaus abschätzig gemeinter Begriff für die (schlechte) Praxis von Journalisten, die in ihrem Eifer, fair zu sein, jede Seite einer Debatte als gleichermaßen glaubwürdig darstellen, selbst wenn die faktischen Beweise auf einer Seite haushoch überwiegen.
Aus diesen Zitaten wird auch deutlich, dass die Beachtung der Kriterien, unter denen eine „ausgewogene Berichterstattung“ angezeigt ist oder eben nicht, einen starken ethischen Aspekt hat. Also bitte, liebe Journalisten. Und es komme mir keiner damit, fundierte Informationen zum Thema Pseudomedizin, von der Homöopathie bis zur Impfgegnerschaft, stünden nicht zur Verfügung! Dem ist nicht so. Die gibt es in ausreichender Zahl und mit ausreichender Beweiskraft, das sollte für Journalisten nun wirklich nicht das Problem darstellen.
Für Politiker natürlich auch nicht.
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[2] https://undsci.berkeley.edu/article/sciencetoolkit_04
[3] https://www.theguardian.com/science/blog/2016/nov/08/impartial-journalism-is-laudable-but-false-balance-is-dangerous
[4] https://www.nytimes.com/2016/09/11/public-editor/the-truth-about-false-balance.html
Eine Nobelpreistraegerin wurde gefragt, was das gefaehrlichste im Leben ist. Ihre Antwort: „die Wahrheit sagen“.
Schöne Geschichte – passt aber hier nicht rein, wo es um wissenschaftliche Belege geht, um eine mehr oder weniger belegte „Annäherung an die Wahrheit“ (besser Wirklichkeit“. Diese Geschichte von der Nobelpreisträgerin gehört in die Moralkategorie, wenn sie sie wissenschaftlich gemeint hat, ist sie eine äh… nicht so tolle Nobelpreisträgerin. 🙂
Es geht um wissenschaftliche Belege. Wie man dazu kommt, gehoert nicht zur Wissenschaft?: das ist mir ein Raetsel.
Wo steht denn das geschrieben?
Um auch die Antwort auf ihren weiteren Kommentar mit einzubeziehen: Lesen Sie doch einmal meine anderen Beiträge auf diesem Blog zur Wissenschaftlichkeitsproblematik. Sie werden vermutlich feststellen, dass ich mich sowohl mit Logik als auch mit dem Wissenschaftsbegriff beschäftigt habe und sehr wohl um die Bedeutung des Wahrscheinlichkeitsbegriffs in der Wissenschaft weiß. Dass der Wahrscheinlichkeitsbegriff im Sinne des Popperschen Fallibilismus gemeint ist (dem Postulat, dass Wissenschaft keine vollständige Wahrheit hervorbringen kann, sondern nur Wahrscheinlichkeitsgrade einer Annäherung) ist selbst schon Gegenstand etlicher Ausführungen in meinen Artikeln gewesen.
Ich würde aber die Formulierung „verschiedene Wahrscheinlichkeitsbegriffe“ nicht verwenden wollen. Wahrscheinlichkeit ist immer der Grad von Annäherung an Wahrheit / Wirklichkeit.
Wahrheit und Unausgewogenheit haben zunächst mal gar nichts miteinander zu tun. Entweder es ist etwas wahr oder es ist unwahr. Betrachtet man einen Sachverhalt unter dem Gesichtspunkt „evidenzbasierte Medizin“, dann fällt die Homöopathie ganz klar durch. Sehr eindeutig.
Stilisiert man die Homöopathie in der Medizin jedoch zu einem derartig großen Gesundheitsrisiko hoch -wie es hier geschieht- dann ist das m.E. Unausgewogenheit, denn es gibt in der Medizin weit Gefährlicheres, wie z.B. massenhafter Schlaf-, Beruhigungs-, Schmerzmittel- und Antibiotikamissbrauch.
Vorsicht mit „Wahrheit“ oder „entweder wahr oder unwahr“. Ich habe schon in früheren Artikeln darauf hingewiesen, dass wissenschaftliche Erkenntnis die Kenntnis über Wahrscheinlichkeiten ist und nicht das absolute Wahrheitswissen. Und genau das greift dieser Artikel ja auf. Die Zitate im Artikel zeigen ja sehr deutlich, dass es auf die Beweiskraft der vorliegenden Belege ankommt und nicht auf Schwarzweißmalerei.
Sie sollten sich einmal mit Logik beschaeftigen. Und es gibt viele verschiedene Wahrscheinlichkeitsbegriffe.